Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Pearl
A Horror Star Is Born
Von Janick Nolting
Ti Westhat sich selbst übertroffen. Mehrfach hat sich der Regisseur („The House of the Devil”) schon bekannte Motive und Ästhetiken der Horrorfilmgeschichte angeeignet, um seine eigene Vision davon auf die Leinwand zu bringen. West hat sich dabei gerne als Chronist und Bewahrer von Genre-Traditionen gezeigt. Aber er ist auch als Fragesteller in Erscheinung getreten, der erkundet, welche zeitlosen Themen und historischen Entwicklungen sich an besagten Traditionen ablesen lassen. „Pearl” setzt diesen Trend auf ungeahnt schräge Weise fort.
Nachdem Ti West mit „X” einen waschechten ‘70er-Jahre-Slasherfilm gedreht hat, folgt die im Geheimen gedrehte Fortsetzung nur wenige Monate später. Die Überraschung ist dem Regisseur dabei nicht nur mit der Kurzfristigkeit gelungen, mit der Fans des Vorgängers in Wests Horror-Kosmos zurückkehren können, sondern auch mit seiner stilistischen Andersartigkeit. Wer einfach nur mehr vom Gewohnten erwartet, wird gleich in den ersten Sekunden von „Pearl” sein blaues Wunder erleben.
Nicht weitersagen, Pearl ist wieder da...
Es ist das Jahr 1918. Auf einer Farm in Texas lebt Pearl (Mia Goth) mit ihren deutschen Einwanderereltern. Ihr Ehemann Howard (Alistair Sewell) ist in den Krieg gezogen. Jetzt hat Pearl das bäuerliche Leben satt, sie will als Filmstar durchstarten. In der Scheune übt sie das Tanzen, um eines Tages auf der großen Leinwand ihr Talent präsentieren zu können. Doch das Umfeld legt ihr andauernd Steine in den Weg und dann sind da noch die sadistischen Neigungen in ihrem Innern, die die junge Frau immer seltener zügeln kann…
„Pearl” bereichert „X” mit neuen Facetten
Ti West zeigt hier ein Paradebeispiel, wie man Fortsetzungen angehen sollte, wenngleich das in diesem Fall bedeutet, in der Zeit zurückzureisen. Die titelgebende Pearl ist schließlich bereits aus „X” berühmt berüchtigt, nun erfahren wir etwas über ihre Ursprünge. „Pearl” verleiht seinem Vorgängerfilm damit tatsächlich noch einmal frische Substanz, fügt ihm neue Facetten hinzu, eröffnet Parallelen, macht Lust auf mehr.
Auch wenn sich Ti West bei seinem Charakterportrait etwas zu früh in die Karten schauen lässt und später nur wenig Unerwartetes bereithält, wiederholt der Regisseur nicht einfach Bewährtes, sondern versucht sich an neuen Wegen: im Tonfall, im Erzähltempo, in der Bildästhetik. Seine Fortschreibung lohnt deshalb nicht nur für Kenner des ersten Teils, sondern funktioniert auch für Neueinsteiger als alleinstehendes Werk. Selbst für diejenigen, die mit dem Regisseur bislang vielleicht wenig anfangen konnten.
Horror trifft Der Zauberer von Oz
Von der schmutzigen 70er-Jahre-Schocker-Ästhetik a la „Texas Chainsaw Massacre”, mit der „X” noch aufwartete, ist hier nichts mehr zu spüren. Stattdessen hat Ti West einen Genremix inszeniert, der an aufwändig ausstaffierte Hollywood-Studioproduktionen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert. Er vereint Melodram mit schwarzer Komödie, Musical-Elementen, Splatter, Psychothriller und quietschbunter Märchenfilm-Optik. Gleich zu Beginn öffnet sich ein Scheunentor und gibt den Blick auf den Bauernhof frei, der in knalligen Farben auf der Leinwand funkelt, als hätte geradeDorothy die Tür zum Zauberreich Oz aufgestoßen.
Dem Horror, der unter der hübschen Oberfläche lauert, verleiht das einen umso verrückteren Charakter, wenn Pearl in diesem Wunderland Mistgabel und Axt auspackt, um für einige Splatter-Eskapaden zu sorgen. Die Fantasie einer Idylle durchwirkt Ti West auf herrlich skurrile Weise mit Psychosen und sozialen Abgründen. Ohnehin ist das alles viel amüsanter und leichter, viel kurzweiliger und bildgewaltiger, als man es sonst von Ti Wests gemächlicher Erzählweise und Inszenierung kennt. Von der manchmal etwas prätentiös anmutenden Behäbigkeit früherer Werke hat sich der Regisseur endlich verabschiedet.
Der verquere Amerikanische Traum
Das „X” aus dem Vorgänger lädt West indes mit neuen Bedeutungen auf. Es wird etwa zum Sprungbrett für Stars, die keine sein dürfen. Den X-Faktor besitzen schließlich nur wenige! „Pearl” erzählt damit von einem Sittenkorsett, das auch in dem Jahrzehnte später spielenden „X” noch die Gesellschaft mit Fanatismus, Marktinteressen, Geschlechterklischees und Schönheitsidealen einengt. Der versuchte soziale Aufstieg in die Unterhaltungsindustrie wird als Sinnbild eines verqueren Amerikanischen Traums gezeigt. Während im Krieg gestorben wird, inszeniert man Spektakel für das Volk. West überlagert in einer irrwitzigen Tanznummer Bühnenshow und Schlachtfeld.
Zwangsweise naht die Eskalation. Selbst ein Gelingen von Pearls Karriereplänen würde nur ein erneutes Anpassen bedeuten, wie der Film früh andeutet. Sie würde sich schließlich nur in die Massen-Ornamente identisch aussehender Tänzerinnen, die Pearl im Kino anhimmelt und die jede Persönlichkeit verschlingen, einreihen. Soziale Ungleichheiten erschweren den Aufstieg zusätzlich und lassen die Gegebenheiten erstarren. Kein Wunder, dass irgendwann die Sicherungen durchbrennen!
Mia Goth hat das Zeug zur Horror-Ikone.
Zumindest ein Star darf jedoch auf einzigartige Weise glänzen: Hauptdarstellerin Mia Goth, die ihre Doppelrolle aus „X” weiter aufs Glatteis führt. Ihre Pearl ist weder reine Psychopathin noch Opferfigur oder Scream Queen. Stattdessen schafft sich Goth eine faszinierend fragile Persönlichkeit zwischen überkandidelter Kindlichkeit, Unschuld und eiskalter Skrupellosigkeit. West schenkt ihr einen zentralen Monolog, eingefangen in einer schnittlosen Großaufnahme, in der sie furios aufspielen und den ganzen Frust ihrer Figur ausbreiten darf. Dieses Gesicht sollte man sich gut einprägen, sofern man auf die Schauspielerin nicht ohnehin längst durch Filme wie „Nymphomaniac” oder „Suspiria” aufmerksam geworden ist. Mit Ti Wests Werken könnte Goth zur neuen Horror-Ikone aufsteigen.
Fazit: Ti West schreibt „X” auf hinreißend abgedrehte Weise fort. Mit „Pearl” gelingt ihm eine bildgewaltige, höchst unterhaltsame Horror-Groteske über den geplatzten American Dream mit einer grandios aufspielenden Mia Goth in der Hauptrolle.
Wir haben „Pearl“ im Rahmen des Filmfestivals in Venedig gesehen, wo er außerhalb Konkurrenz seine Weltpremiere feierte.
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